Termine

 
Sonntag, 24.04.2022
15:00 Uhr
 

BEYOND HOMOGENEITY - Performatives Theater

„…DIE SÜNDE DES ANDERSARTIGEN ZU RISKIEREN“

Welchen Wert hat "das Andersartige" für Bildung, Wissenschaft und Kunst?

Im Mittelpunkt der Veranstaltung steht der Austausch über diese Frage. Den Ausgangspunkt bildet - im Dialog mit der Ausstellung - ein performativer Impuls von Studierenden des Zentrums für Performance Studies aus ihrer aktuellen Produktion mit dem Theater der Versammlung unter der Gastregie von Tobias Winter, die im Mai 2022 in der Bremer Kulturambulanz/Haus im Park zur Premiere kommt.

Anmeldung: info@syker-vorwerk.de | Tel. 04242-577410.

„Soll ich für die Lebensfreude bestraft werden?" fragt Hedwig D. in einem Brief an ihren Vater. Da war sie bereits zu zweiten Mal von ihm, einem renommierter Reformschulpädagogen, in das St.-Jürgen-Asyl in Ellen bei Bremen eingeliefert worden. Bereits 1908 hatte er mit Erfolg ihre Entmündigung betrieben. Man wirft ihr „homo- und heterosexuelle Exzesse“ vor, sowie einen „zwanghaften Hang zur Lüge“. Der passt gut zum neudefinierten Krankheitsbild der „Pseudologia fantastica“, das Dr. Delbrück, Direktor der Anstalt, just formuliert hatte. Die Diagnose lautet „Moralische Idiotie“. Vier Jahre lang kämpft Hedwig um ihre Entlassung. Verbündet sich mit Krankenschwestern, flieht und wird wieder zurückgebracht. Ihre Geschichte gibt Zeugnis von mehr als einem Einzelschicksal. Sie stellt die Frage, was normal ist und was verrückt – und wer das zu welcher Zeit bestimmt. Die umfangreiche Patientenakte erzählt bildreich von diesen Jahren. Die Kulturambulanz hat sie Geschichtswissenschaftler*innen der Universität Bremen zur Verfügung gestellt, die wiederum mit dem Zentrum für Performance Studies kooperieren. So wurde die Akte zur Basis eines dramatischen Textes. Ein Jahr lang haben Studierende beider Bereiche (der Geschichtswissenschaften und der Performance Studies) ihre unterschiedlichen Perspektiven auf den Fall Hedwig D. zueinander in Beziehung gesetzt.
 
Unter der Regie des Berliner Gastregisseurs Tobias Winter, eines ausgewiesenen Experten für die Dramatisierung theaterferner Texte, ist ein Stationen-Theater  durch die Leben der Hedwig D. entstanden. Dabei entscheidet die Inszenierung die Frage nach Normalität und Verrücktheit nicht. Sie macht vielmehr das Wanken von Selbstverständlichkeiten erfahrbar, wenn sie unterschiedliche Spielweisen anbietet, um sich Hedwig zu nähern. In der Inszenierung wird Hedwigs Andersartigkeit in den Kontext von Zeitgenoss*innen gestellt, die bis heute für ihr abweichendes Verhalten ikonisiert werden. „…die Sünde des Andersartigen zu riskieren“, schlägt auch Antonin Artaud, bedeutender Theaterreformator mit Psychiatrie-Erfahrung, vor, wenn er in „Van Gogh oder der Selbstmörder durch die Gesellschaft“ über die Psychiatrie als Instrument der gesellschaftlichen Unterdrückung von Andersartigen spricht. Während Hedwig in der Anstalt ans Bett gefesselt ist, entflammt sich der Bremer Künstlerstreit am Ankauf eines Van-Gogh-Gemäldes durch die Kunsthalle. In den folgenden Jahren wird er sich zu einer nationalen Debatte über den Wert des Andersartigen (und des Nicht-deutschen) für die Kunst steigern. Seine Vehemenz wirft die Schatten des Ersten Weltkriegs voraus. Auch heute ist es gesellschaftlich notwendig, dass wir uns mit der Frage nach dem Wert des Andersartigen konfrontieren. Die Inszenierung lädt dazu ein, dieser Frage im Kontext der Geschichte und der Geschichten in die Gegenwart zu folgen und sich zu ihrem existentiellen Appell zu verhalten.

Eintritt: frei